Katie Arnold-Ratliff, „Was uns bleibt“

Was uns bleibt
Was uns bleibt
Buchtipp

„Du hast sie mehr geliebt als mich.
Nicht mehr, sagte ich. Nur anders.
Wie anders? fragte sie.
Es gibt Menschen, die kann man nicht anders als lieben, sagte ich zu ihr, und es gibt Menschen, die man zu lieben beschließt. Man wacht jeden Tag auf und beschließt, sie zu lieben.
Und ich gehöre zu den Letzteren.
Ja, sagte ich. Und das zählt mehr.“

Francis, ein Lehrer in den Mittzwanzigern, macht mit seinen Zweitklässlern einen Ausflug zum Strand, wo sie die Leiche einer Frau finden, die sich von der Golden Gate Bridge gestürzt hat. Die Kinder wie auch Francis sind traumatisiert. Francis meint in der Leiche seine ehemalige Frau und Liebe seines Lebens, Nora, zu erkennen, die vor zwei Jahren wortlos aus seinem Leben verschwunden ist.
Dieses Erlebnis setzt in Francis vergessene Erinnerungen frei und bringt sein jetziges Leben ins Schwanken; er fängt an, sein Leben infrage zu stellen; die vermeintliche Liebe zu seiner zweiten und schwangeren Frau Greta, seine Arbeit als Lehrer, sein Verhältnis zu seiner Familie, seine wahren Gefühle für Greta und Nora. Um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, fängt Francis an, zu trinken und Tabletten zu nehmen. Als dies nicht hilft, bricht er aus seinem Leben aus und verschwindet.

In „Was uns bleibt“ beschreibt Arnold-Ratliff präzise das Gefühlschaos, in das Francis nach dem vermeintlichen Fund seiner ersten Frau stürzt.

Die Kapitel wechseln zwischen Gegenwart (dem Leben mit Greta, seiner Arbeit als Lehrer) und Vergangenheit (seine Erlebnisse mit Nora) und fangen an, sich zu verknüpfen. Die Erzählperspektive ändert sich: Zwar ist das Buch aus der Sicht Francis’ geschrieben, doch sind die Kapitel, die in der Gegenwart spielen, beschreibend. Die Rückblicke sind direkt an Nora gerichtet: Francis und Nora, die sich in der Schule kennenlernten, heiraten spontan, als Noras Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen. „Das Friedhofstor war geschlossen, aber wir schafften es, so an seinen Ketten zu zerren, dass wir uns hindurchquetschen konnten. […] Als wir vor dem Grab niederknieten, konnte ich dein Gesicht kaum erkennen. ‚Hallo, Mom and Dad.‘ Du klangst fröhlich. […] ‚Wir haben geheiratet‘, sagtest du. ‚Ich wünschte, ihr wärt dabei gewesen.‘“ Durch die direkte Ansprache zeigt Arnold-Ratliff mit tiefer Emotionalität Francis’ intensive Nähe und Verbundenheit zu seiner verlorenen Frau.

Greta, die Francis während einer Abschlussfeier in der Schule kennenlernt und die Francis später für Nora verlässt (um nach Noras Verschwinden doch wieder zu ihr zurückzukehren), verzeiht ihm seine Eskapaden immer wieder: „Am Anfang betrachtete ich sie oft mit einem Gefühl, das ich nicht richtig benennen konnte, […] jetzt weiß ich, dass der Begriff für das, was ich gerade beschrieben habe, Herablassung ist. […] Es lag nie daran, dass ich sie nicht liebte. Es lag daran, dass ich sie auf die falsche Weise liebte, die Motive waren falsch, wurzelten in Höflichkeit […].
 
„Was uns bleibt“ ist ein packender und mit psychologischer Präzision geschriebener Roman, der die Verzweiflung und die Zweifel eines Menschen beschreibt und der bis zum Ende spannend bleibt, da es bis zuletzt nicht sicher ist, für welche Zukunft Francis sich entscheidet. (AF)

Dies ist der erste Roman der 1982 in Sacramento geborenen Katie Arnold-Ratliff, die Redaktionsmitglied von O, The Oprah Magazine ist.
Das Buch ist im mare Verlag am 14. Februar 2012 erschienen.
ISBN 978-3-86648-158-9
19,90 Euro