Buchtipp: Berlin von unten

Blutsbrüder
Blutsbrüder

„Blutsbrüder – Ein Berliner Cliquenroman“ von Ernst Haffner

„Der Bäcker in der Ackerstraße, an Wärmehallenkundschaft gewöhnt, gibt für den Groschen acht alte Schrippen und zwei zermanschte Kuchenstücke. ‚Danke auch schön‘, sagt Willi ganz glücklich. Sogar Kuchen. Ob zermanscht oder in Form ist dem Magen doch ganz schnuppe. Aber Willi opfert noch weitere fünf Pfennig. An der Kaffeeklappe in der Wärmehalle holt er sich einen Topf heißen Milchkaffee dafür.“

Berlin, Anfang der 1930er Jahre. Tausende obdachlose Jugendliche leben auf der Straße. In Cliquenzusammenschlüssen versuchen sie, zu überleben. Willi, Ludwig, Konrad, Fred, Walter, Hans – so und ähnlich heißen die Jungs zwischen 16 und 19 Jahren, die in Jonnys Clique zusammengefunden haben. Sie verbringen ihre Zeit in Wärmehallen, in düsteren Kneipen vor einem halbleeren Glas Bier, das andere Gäste stehen gelassen haben, sie suchen sich abends zusammen einen Schlafplatz – und teilen die paar Pfennige, die Jonny irgendwo auftreibt. Die Jungs versuchen wie viele andere, Hilfsjobs zu ergattern, um nicht zu verhungern. Wenn das nicht klappt, wird das verkauft, was man noch hat: die Windjacke oder die guten Schuhe. Wenn gar nichts mehr geht, wird gestohlen. Oder auf den Straßenstrich gegangen.

1932 wurde „Blutsbrüder“ zum ersten Mal veröffentlicht, unter dem Titel „Jugend auf der Landstraße Berlin“. Das Buch wurde von den Nazis verboten und verbrannt. Der Autor Ernst Haffner ist seit der Machtergreifung der NSDAP verschollen. Auch wenn über 80 Jahre seit der Erstveröffentlichung vergangen sind, ist das Buch sprachlich wie auch inhaltlich nicht antiquiert. Haffner scheint die Jungs zu  begleiten, ist ihnen gedanklich sehr nah, ist nicht pathetisch und begegnet ihnen mit „tieftraurigem Realismus“. Er beschreibt die Zustände Berlins in den 30er Jahren: die Wärmehallen, die Kneipen, die für die vielen Obdachlosen zum Zuhause werden, die verwanzten Schlafunterkünfte, die Stundenhotels, die Auslagen der Lebensmittelläden, die für die meisten unerschwinglich sind. Das Buch ist ein erschütterndes und tief berührendes Zeitzeugnis aus Deutschlands dunkelster Zeit. Ein Buch über eine Clique mit unterschiedlichen Einzelschicksalen, über die man auch noch nachdenkt, wenn es ausgelesen ist. Und in dem das, was heutzutage als selbstverständlich erachtet wird, etwas ganz wertvolles ist:  „Und jetzt kommt der feierliche Augenblick, wo Willi und Ludwig sich auf das Sofa setzen, um mit dem Abendbrot zu beginnen. Nicht so ein vertrocknetes Brötchen und Bier dazu wie in der Kneipe. Nein, ein richtiges Abendbrot zu Hause. Sie sehen sich beide an, sagen aber nichts. Der Augenblick ist zu groß.“

„Blutsbrüder – Ein Berliner Cliquenroman“ von Ernst Haffner ist am 16. August 2013 im  Metrolit Verlag erschienen. 264 Seiten, gebunden, Euro 19,99