Buchtipp: The Great War – das große Leiden

„Mit dem Feind leben – Alltag im Ersten Weltkrieg“ von Richard van Emden

„Wir hörten, wie die Deutschen, Stille Nacht, Heilige Nacht‘ sangen, und dann riefen sie: ,Frohe Weihnachten.‘ Irgendwann sagten unsere Jungs: ,Wir machen mit.‘ Also sangen wir auch. Da hörten die Deutschen auf. Wir sangen weiter, und als wir aufhörten, sangen sie. (…) Dann sprang einer der Deutschen aus dem Schützengraben und rief: ,Happy Christmas, Tommy!‘ Niemand feuerte einen Schuss ab. (…) Als der Spieß vorbeikam, sagte er: ,Runter, runter mit euch.‘ Wir straften ihn mit Verachtung. ,Es ist Weihnachten!‘ Und bei diesen Worten sprangen wir alle aus dem Graben, die Deutschen gaben uns Zeichen, näherzukommen bis zu ihrem Drahtverhau, und dort schüttelten wir uns die Hände. (…) bald tauschten Soldaten über ein-, zweihundert Meter schlammiger, unwegsamer, zum Teil mit Granaten gespickter Felder Geschenke aus: deutsche Zigarren gegen britisches Dosenfleisch (…)“.

Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus, rund 17 Millionen Menschen kamen ums Leben.

Der britische Historiker und Journalist, Richard van Emden, führte Interviews mit über 270 Veteranen, die verfeindeten Briten und Deutschen kommen in Auszügen aus Briefen und Tagebüchern zu Wort. Viele persönliche Schicksale zeigen auf, wie das Leben im Ersten Weltkrieg war und wie man dem Feind begegnete. So brutal der Krieg war, so schonungslos und verzweifelt die Schilderungen der Menschen, so unerwartet sind einige Dokumentationen. Zwischen den Schützengräben tauschen die Feinde Zeitungen aus, schreiben sich Nachrichten auf Schilder, rufen ihrem Gegenüber Grüße zu, stimmen unerlaubte Waffenruhen ab, bei denen sie dem anderen helfen, Verwundete zu versorgen. „Sie (die Deutschen) sind fabelhafte Kerle“, schreibt ein britischer Soldat – und die Deutschen haben ein ebenso positives Bild von den Briten. Viele deutsche Soldaten wissen gar nicht, warum sie gegen die Briten kämpfen, von denen viele in Deutschland leben und sogar weit mehr Deutsche in England arbeiten. „(…) ich wünschte mir, wir könnten alle wieder Freunde sein“, so ein Tagebucheintrag; „Je näher an der Schlacht, desto kleiner der Hass.“

Schon vor hundert Jahren spielten die Medien eine wichtige Rolle und prägten die Feindbilder, hetzten gegen den Feind, beschönigten und heroisierten die eigenen Kriegserfolge. Wurde von der schlechten Behandlung der in Kriegsgefangenschaft geratenen Truppen berichtet, wurden die feindlichen Gefangenen daraufhin ebenfalls schlecht behandelt. Und doch zollte man dem Gegenüber auch Respekt, vor allem unter den Piloten der Luftwaffe, die kaum Überlebenschancen hatten.

Die vielen Zeitzeugenberichte gehen nahe: „Mit dem Feind leben“ macht deutlich, dass hinter den gewaltigen Armeen und den vielen Toten eines steht: die persönlichen Schicksale unzähliger Menschen.

„Mit dem Feind leben – Alltag im Ersten Weltkrieg“ von Richard van Emden ist im April 2014 bei Hoffmann und Campe erschienen. 432 Seiten, gebunden, Euro 22,99