Hand, Tasse, Kaffeefleck

Buchtipp

„Es gab Tage, an denen sie kaum wusste, wer sie war. Tage, an denen sie den Mund aufmachte und nicht wusste, welche Sprache herauskommen würde. Jemand schlich ihr hinterher, leise und unabweislich, und aß Stücke ihres Gedächtnisses auf. Wo Stücke fehlten, wurden Steine hineingestopft, und dann wurden die Löcher zugenäht. Darum kollerte und klapperte es in ihr, sie fühlte sich ausgehöhlt“.

Die Finnin Anna lebt in einem Altenheim. Jeden Tag vergisst sie ein Stück mehr, was in ihrem Leben passiert ist. Sie beschreibt ihre Umgebung in einfachen Worten, legt dafür Listen an. Die Beschreibungen ändern sich, passen sich ihrer täglichen Stimmung an.

Wortlisten hat Anna auch schon angelegt, als sie jünger war, zusammen mit ihrem Mann Antti, mit dem sie die Sommer in einem kleinen Häuschen auf einer Schäreninsel verbringt, einsam, umgeben von Möwen, den Bäumen und dem Meer. Antti ist Kameramann, und eines Tages kommt er nicht mehr von der Arbeit zurück. Anna bleibt mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch allein zurück, flüchtet sich in ihre Wortlisten und eine Fantasiewelt. Als sie nach London geht, lernt sie Thomas kennen. Trotzdem träumt sie von ihrem Leben in dem Häuschen auf der Insel, versteckt sich im Kleiderschrank und verbringt die Zeit mit ihren sechs fiktiven Kindern. Ihrer Ausweglosigkeit versucht sie durch Wanderungen zu entkommen; die Wege werden länger, und eines Tages gibt es keinen Weg zurück. Anna wandert durch die Welt, verliert das Orts- und Zeitgefühl. Der einzige Halt, den Anna hat, sind ihre Wortlisten – und Gott: Am Sonntagnachmittag begegnete Anna an der U-Bahn-Station Gott. Dort stand er, zwischen dem Blumenhändler und dem Zeitungsjungen. (…) ,Na, Na´, sagte Gott und schloss Anna in die Arme. ‚Ich bin ganz kaputt‘, sagte Anna (…).

„Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“, beginnt mit der alten Anna. Der Leser begleitet Anna auch durch ihr Leben in London sowie durch die Zeit, die Anna mit ihrem Mann Antti in Finnland verbringt. Auch wenn die erste Vermutung ist, dass Anna an Alzheimer erkrankt ist, liegen die Ursachen ihres Vergessens und die Flucht in eine eigene Welt in den Schicksalsschlägen, die sie ereilen. „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“ ist ein sensibel geschriebener Roman, der durch die tragische Gestalt Anna’s berührt. Die Realität und Anna’s sehr eigene Welt verschwimmen. Abrupt sind leider die Sprünge zwischen den einzelnen Kapiteln, die nicht aufeinander aufbauen und Fragen offen lassen.

Selja Ahava: „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“ ist am 4. Februar 2014 im mareverlag erschienen. 224 Seiten, gebunden, Euro 20,-, ISBN 978-3-86648-182-4

AF