Ein modernes Märchen aus dem Morgenland

„Ein zerrissener Engelsflügel aus Tüll in der einen Hand, ein mit weiß-rosa Federn geschmückter Zauberstab in der anderen. Ich fuchtele mit dem Stab in der Luft herum und brülle die schwarz verschleierte Frau an: ‚Sag mal, hast du sie noch alle! Was fällt dir ein, dein eigenes Kind zu schlagen?!‘ Dann wende ich mich Amira und Maryam zu und deute mit dem Zauberstab auf die Stacheldrahtbarrikade. ‚Hat in diesem Land etwa keine Revolution stattgefunden? Kein arabischer Frühling?‘“

Drei Frauen lernen sich auf einer Dachterrasse in Tunis kennen: die pragmatische und maskuline Maryam aus Ägypten, die quirlige Tänzerin Amira aus Tunesien und die Ich-Erzählerin, eine Journalistin aus der Türkei. Alle drei stammen aus Ländern, in denen es eine Revolution gegeben hat. Doch ihre Hoffnungen, es jetzt als Frau leichter zu haben, wurden nicht erfüllt. Sie flüchten: Amira vor ihrer Familie, Maryam, die auf dem Tahrir-Platz demonstrierte, flieht aus Ägypten, und die Journalistin aus Istanbul, wo ihre Kollegen verhaftet werden. Am selben Abend lernen sie eine alte Dame kennen, die sie von der Dachterrasse an ihrem Fenster erblicken. Sie nehmen die Einladung von Madame Lilla an, die sie auf eine Reise ins Ungewisse einlädt. Die vier unterschiedlichen Frauen begeben sich auf eine abenteuerliche Reise; sie durchqueren die libysche Wüste, reisen weiter nach Kairo und dann in den Libanon. Sie alle hüten Geheimnisse, die sie nur zögerlich preisgeben.

Doch warum führt Madame Lilla die drei jungen Frauen durch Kriegsgebiete, was ist ihr eigentliches Ziel? Eines steht fest: Madame Lilla hat sehr gute Kontakte zu den unterschiedlichsten Personen, denen sie auf ihrer Reise begegnen und die sie alle für ihre Pläne einspannt. Und so wird dieses gefährliche Abenteuer nicht nur eine Reise, auf der sie sich ihren persönlichen Problemen stellen müssen, sondern verfolgt auch Madame Lillas sehr konkretes Ziel … „Dort saß sie. Auf einem jener weißen Plastikstühle, die so gar nicht zu ihr passten. Sie wirkte klein wie ein Vogel. Die Haare, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatten, und ihr violettes Seidenkleid flatterten im Wind, und dieses Flattern dehnt sich aus, umgab ihren ganzen Körper. Ihr Blick war auf einen Punkt in der Ferne gerichtet, so weit in der Ferne, wie wir niemals schauen können.“

Ece Temelkuran hat mit diesem Buch ein wunderbares Werk geschaffen, das den Leser mit auf die Spuren des arabischen Frühlings nimmt. Wie durch ein Kaleidoskop glitzern die vielen Facetten und Geschichten, die sich poetisch zu einem Märchen – und einem Stück Realität – aus dem Morgenland verweben.

Ece Temelkuran: „Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann“ ist im September August 2014 bei Atlantik erschienen. 400 Seiten, gebunden, 22 Euro AF