Grau oder ein Sonntag in der HafenCity

Grau ist eine schöne Farbe
Grau ist eine schöne Farbe
Schöner Wohnen

Ja – ich geb’s zu – ich bin neidisch. Die Wohnung meiner Nachbarin ist perfekt; die könnte man in „Schöner Wohnen“ abbilden ohne vorher etwas zu verändern. Die Farben, die dekorativen Elemente….alles sitzt, und zwar da, wo es soll.

Farbe. Hab ich doch auch. Im Keller. Reste von meiner letztjährigen Wohnzimmer-Streichaktion. Es ist Sonntag morgen, die Einkäufe vom Fischmarkt sind verstaut, ich mache mich auf den Weg ins zweite UG zu meinem Keller. Der Farbtopf steht noch da. Die Farbe: grau. Was anderes hab ich jetzt gerade nicht. Ich nehme den Topf mit in die Wohnung, schaue mich um – die weiße Küche könnte doch etwas Abwechslung vertragen. 2 Wände sollen grau  werden – die, die die  weiße Einbauküche umrahmen. Das gäbe einen tollen Kontrast.

Kontrast zu weissen Fliesen
Kontrast zu weissen Fliesen
Ich klettere auf den Stuhl. Ich klettere auf den Tisch. Ich mache mich wieder auf den Weg in den Keller und hole die Leiter. Auf dem Weg stelle ich fest, dass ich gar keinen Pinsel fürs Finetuning habe, nur die dicken Farbrollen. Ein Klingeln nebenan, mein männlicher Nachbar hat so etwas wie eine Hobbyecke im Keller, da gibt es auch einen Pinsel für mich. Wieder zurück, überlege ich kurz, ob ich sonst noch Hilfe zum Streichen bräuchte. Nachbar A ist in Urlaub gefahren, Nachbar B hat ein Date, meine Cousine – vom Fach – hat mir schon das Wohnzimmer mitgestrichen, aber ich habe noch kein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für sie – somit verwerfe ich den Gedanken an das S.O.S. schnell wieder und versuche mich daran zu erinnern, wie wir das letztes Jahr gemacht haben.

Erstmal das nötigste Abdecken. Keine Plastikplane da – aber Müllbeutel tun’s auch. Dann anfangen und alle Ränder und Ecken abkleben, damit es hinterher ordentliche Kanten gibt. Die Farbe muß umgerührt werden, dafür zweckentfremde ich kurz die Holzstütze meiner Orchidee. Es kann losgehen. Ich steige auf die Leiter und beginne konzentriert mein Werk. Die erste Steckdose – abgeklebt – ist umrundet. Die Kante zur weißen Wand und der Tür nicht – das wird unschön. Ok – kann man später noch nachbessern, sage ich mir.  Höher geht’s  hinauf, endlich sehe ich meine Einbauküche von oben (Staub) und male eifrig drumherum. Klebe die Kante zur Decke ab, streiche ein Stück, schiebe die Leiter weiter, klebe die Kante ab, streiche weiter….jetzt kommt der Vorsprung an der Ecke. Spontan entschliesse ich, dass er als weißes Dekoelement gut aussehen täte und umrunde ihn sportlich. Die nächste Wand, die nächsten Ecken….die Leiter reicht nicht weit genug. Ich steige auf meine Arbeitsplatte und frage mich, ob mich wohl auch ein Ceranfeld trägt. Nein – ich versuche es lieber nicht – ich bin allein, keiner sieht mich stürzen, die Plisses sind fast bis nach oben hochgezogen, um den Touristen auf dem Vasco da Gama Platz nicht ein besonderes Spektakel zu bieten.

Der Kühlschrank – auch er wird großzügig ummalt. Pause. Ich schwitze. Entdecke weiße Blitzer in dem Grau der Wände, bessere nach. Dann entferne ich das Klebeband – und das Entsetzen  ist groß – ungleichmässig  schliesst das weiß vom grau ab, ja kurvig sieht es aus, vor allem zur Küchendecke  ist es schlimm. Da hilft nur eine ruhige Hand und Augenmaß. Und das ist nicht so gut. Auch nicht bei dem weißen Dekovorsprung.

Ruhig bleiben – die großen Flächen sehen nicht schlecht aus, sag ich mir,  und stechen schön von den weißen   Fliesen über dem Herd ab Die grauen Sprenkel  auf den Fliesen kann ich später noch entfernen. Erstmal lieber vom Parkett die grauen Fußspuren wegmachen. Und jetzt mit ruhiger Hand – daneben…unsauber. Das grau geht nicht wieder abzuwischen, verschwimmt mit seiner weißen Umgebung. Als Kind habe ich weiße Zahnpasta genommen, um zermatschte Spinnen den Wänden anzugleichen. Aber im Bad ist nur gestreifte.
Dann muß die Dekoecke auch grau gestrichen werden, anders geht’s nicht. Und die Küchendecke am besten gleich mit. Ich bin jetzt in meinem Element, hier ein Tupfer, hier ein Strich, hier ein paar Flecke entfernen…warum nicht doch alle Wände streichen? Ich stehe auf der obersten Sprosse der Leiter,  sehe durch die Ritze im Plisse die Sonne scheinen und die Leute spazieren gehen. Ich aber werde nachher eine gestylte Küche haben. Die Decke wird in Angriff genommen, noch ein paar Müllbeutel auf dem Parkett verteilt…ich streiche was ich streiche was ich streiche was ich streiche.

Es wird dunkel. Ich knipse das Licht an, dabei ist es noch gar nicht so spät und draussen schien grad noch die Sonne. Doch in meiner Küche herrscht das grau. An den Wänden, auf dem Boden, auf den Fliesen, an der Decke, auf dem Tisch…langsam freue ich mich, dass es nur ein mittelgrau ist und keine dunklere Variante, die ich mir eigentlich vorgestellt habe. Es ist später Nachmittag.  Erschöpft lasse ich mich auf die Küchenbank fallen. Ich kann nicht mehr. Um mich herum alles dunkel. Oder? Ich schaue den Flur hinunter, die Wand ist – weiß….Ich könnte natürlich….