Spitzenfrau

Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration Aydan Özoğuz (Foto: TH)
Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration Aydan Özoğuz (Foto: TH)

Die Hamburgerin Aydan Özoğuz kandidiert erneut für den Bundestag – als Nummer 1 auf der SPD-Liste der Hansestadt

Gerechtigkeit ist für die stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD eine Frage der Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Seit 2009 ist die ehemalige Bürgerschaftsabgeordnete Aydan Özoğuz (50) Mitglied des Deutschen Bundestages. Mit 94 Prozent wurde sie für die Bundestagswahl 2017 von ihrer Partei als Spitzenkadidatin aufgestellt. Özoğuz kandidiert auch in ihrem Wahlkreis in Wandsbek. 2013 wurde sie direkt in den Bundestag gewählt. Mit Beginn der laufenden Legislaturperiode wurde die Hamburgerin als Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration ernannt.

 

Frau Özoğuz, Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema der SPD. Was bedeutet Gerechtigkeit?

Gerechtigkeit ist ein vielfältiges Thema. Wir hören von vielen Menschen, dass es ihnen gut geht und wir wissen, dass unsere Volkswirtschaft erfolgreich ist. Und das ist natürlich gut so. Aber nicht alle profitieren von dem Wohlstand, den wir insgesamt erwirtschaften. Das gilt z.B. für Menschen mit geringem Einkommen. Wir müssen uns bereits heute fragen, wie diese später mit ihrer Altersrente auskommen sollen – oftmals sind es Frauen. Wir müssen einen neuen Generationenvertrag entwickeln, der den Menschen ein Stück Garantie bietet.

Gerade bei dem Thema Entlohnung von Arbeit gibt es viele Unterschiede. So zum Beispiel die Lohnunterschiede zwischen Männer und Frauen. Aber auch die Intransparenz bei der Eingruppierung von Arbeitnehmern in Lohngruppen. Eine Frage, die auch Männer interessiert. Anders als bei vielen unserer europäischen Nachbarn gilt bei uns die Gehaltsfrage als großes Geheimnis. Es geht nicht darum, zu wissen, was andere verdienen.  Es geht um die Frage der gerechten Eingruppierung und um die Beseitigung einer möglichen Ungleichbehandlung z.B. auch von Teilzeitkräften.

Eine dritte Säule ist für uns die Unterstützung für Familien. Klassische Rollenmodelle und Vorbehalte, dass man es doch „auch so hinkriegen müsse“ helfen weder Alleinerziehenden noch Familien weiter. Die Menschen fordern, sei es aus wirtschaftlicher Not oder als bewusste Entscheidung für die Berufstätigkeit beider Elternteile, größere Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

 

Diese Themen sind nicht neu. In dieser Legislaturperiode wird die Familienpolitik von einer SPD-Ministerin geprägt. Wieso wird von Ihnen jetzt ein „Mehr“ an Gerechtigkeit gefordert?

Wir sind Teil einer Koalition und unser Koalitionspartner blockiert leider auch viele Dinge. Wir werben im Wahlkampf für eine größere Gestaltungsmacht. Dann werden unsere Vorschläge für eine Familienarbeitszeit oder ein Entgeltgleichheitsgesetz für Frauen und Männer eine größere Rolle spielen. Das sind Bereiche, bei denen unser Koalitionspartner zum Teil eine vollkommen andere Sicht hat, teilweise auch ein antiquiertes Frauenbild. Wir wissen, dass viele Frauen im Alter von Armut bedroht sind. Der Wiedereinstieg in den Beruf nach der Elternzeit und vor allem die Rückkehr in Vollzeit sind für Frauen immer noch ein Problem.

 

Worin unterscheiden sich die Forderungen der SPD von den Ansätzen der CDU/CSU?

Von der CDU hören wir doch, dass sich eigentlich an der derzeitigen Politik nichts ändern soll. Wenn wir aber zukunftsfähig bleiben wollen, muss die Politik mit der Zeit gehen und den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen.

Für welche Positionen im Wahlprogramm setzen Sie sich insbesondere ein?

Die bereits erwähnte Familienarbeitszeit und die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft sind für mich sehr wichtige Anliegen. Die Familienbilder haben sich in unserer Gesellschaft stark verändert. Aufgrund der früheren Modelle, die ausschließlich von dauerhaft intakten Ehen ausgegangen sind, entstehen viele Ungerechtigkeiten.

Verantwortlich bin ich aber natürlich auch für die Themen Migration und Integration. Hier ist mir die Schaffung einer klaren Struktur besonders wichtig.

 

Meinen Sie damit ein Einwanderungsgesetz?

Ja. Und es ist durchaus nicht so, dass derzeit Menschen unkontrolliert zu uns kommen könnten. Wir haben unendlich viele Regelungen für Einwanderung, die aber kaum jemand durchschaut und wenig stringent sind. Es gibt derzeit über 50 verschieden abgestufte Aufenthaltstitel. Hier müssen wir eine größere Transparenz schaffen. Und auch wenn einige es nicht wahrhaben wollen: Deutschland lebt auch von der Arbeitsmigration.

 

Ein Einwanderungsgesetz würde aber nicht die Flüchtlingspolitik betreffen …

Genau. Das sind verschiedene Rechtsgrundlagen, die aber in der Debatte irrtümlich vermischt werden. Übrigens auch bei den Menschen, die zu uns kommen wollen. Das führt dazu, dass Menschen Asylanträge stellen, aber eigentlich zum Arbeiten kommen wollen, ohne politisch verfolgt zu sein.

 

Worauf führen Sie die Widerstände gegen ein Einwanderungsgesetz zurück?

Es gibt ein Zerrbild, das davon ausgeht, dass alle, die über Einwanderung sprechen, sich für ungezügelte Masseneinwanderung einsetzen. Dabei geht es bei einem Einwanderungsgesetz um die Organisation und Strukturierung von Migration, die sich am Bedarf des hiesigen Arbeitsmarktes ausrichten muss.

Es ist bisher nicht immer klar geworden, dass Flüchtlingspolitik sich ausschließlich auf humanitäre Gesichtspunkte bezieht. Hier gehört es zur Ehrlichkeit dazu, dass wir den Menschen frühzeitig sagen, wenn sie kein Recht auf Asyl haben und ihnen die Rückkehr menschenwürdig ermöglichen. Wir wissen, dass im letzten Jahr rund 55.000 abgelehnte Asylbewerber von sich aus zurückgegangen sind. Viele nutzen das Thema Flüchtlinge und Einwanderung gern als Wahlkampfthema und verschweigen dabei diese Fakten.

 

Was würden Sie drei Monate vor der Wahl für ein vorläufiges Resümee Ihrer Arbeit als Staatsministerin ziehen?

Auf der einen Seite ist es uns gelungen, viele Gesetze und Verordnungen für mehr Integration zu reformieren. Heute dürfen Menschen Integrationskurse früher besuchen, Geflüchtete können eine Ausbildung beginnen und  Berufsanerkennungen sind möglich. Besonders freut es mich, dass wir auch ein Budget für die Stabilisierung der ehrenamtlichen Tätigkeiten für die Integration in den Ländern und Gemeinden erhalten haben. Hierfür haben sich alle Fraktionen im Bundestag ausgesprochen.

 

Welche Ziele hätten Sie in dieser Legislaturperiode noch gern erreicht?

Aus meiner Sicht hätte ein Einwanderungsgesetz beschlossen werden müssen. Jeder weiß, dass wir es brauchen. Da freue ich mich, dass es eine eindeutige Positionierung meiner Partei gibt. Es ist wichtig, dass eine Bundesregierung in der Frage von Organisation und Struktur von Einwanderung größtmögliche Transparenz sicherstellt. Das hilft dann übrigens auch gegen Rechtspopulismus.

 

Durch ihre Arbeit sind Sie ständiges Ziel von Hasskommentaren in den sozialen Medien. Wie gehen Sie persönlich mit diesen Angriffen um?

Ich bin in den Fokus der – so will ich sie mal nennen – „Rechten“ geraten. Ganz stark sind dabei Sympathisanten der AFD vertreten. Viele äußern sich unter Klarnamen und berufen sich dabei auf die angeblich „besseren“ Ansichten der AFD, meist ohne inhaltliche Argumente. Es geht um Beschimpfung und auch Hetze. Besonders bin ich über Morddrohungen entsetzt.

 

Wie reagieren Sie? Stellen Sie Strafanzeige?

Auf jeden Fall dann, wenn meine Familie bedroht wird. Es ist auch bereits zu zwei Verurteilungen gekommen. Bei einem der Täter, der auch meine Familie in einem post bedroht hatte, stellte sich heraus, dass er auch die jüdische Synagoge in seiner Nachbarschaft ständig drangsaliert hat.

Es steckt aber auch ein Schema dahinter: einzelne Personen mit mehreren Fakeprofilen in den sozialen Medien und sich wiederholende Angriffe. Wir wissen mittlerweile, dass die Täter sich im Netz verabreden und systematische Angriffe auch auf  die Facebook-Seiten von Menschen starten, die meine Arbeit positiv kommentieren.

 

Ich unterstütze die Gesetzesinitiative des Justizministers, der die Betreiber der Plattformen stärker in die Verantwortung nimmt und diese dazu zwingt, Hassbeiträge zügig zu löschen. Wir dürfen diese Bedrohungen nicht einfach hinnehmen und müssen uns dagegen wehren.

 

Frau Özoğuz, worauf führen Sie den Hass zurück?

Menschen, die so gedacht haben, gab es immer. Durch den Austausch in den sozialen Medien treffen sie nun auf Gleichgesinnte und glauben sich durch die vermeintliche Anonymität sicher. Es gibt auch Menschen, die für ihre politischen Ziele diesen Hass schüren. Sie verbreiten bewusst Unsicherheit und destabilisieren so unsere Gesellschaft.

Da müssen wir genau hinschauen und gegen die Verunsicherung Stabilisierungsmaßnahmen entgegensetzen. Die Stärkung des Ehrenamtes und ein transparentes Einwanderungsgesetz gehören aus meiner Sicht dazu.

 

Vielen Dank für das Gespräch 

 

Das Gespräch führten Conceicao Feist und Marco Pawlowski