„Unser Lebensstil kommt in die Krise“

Pastorin Antje Heider-Rottwilm begrüßt die Gäste Markus Böcker, Inhaber des Edeka-Marktes in der HafenCity (links)  und Dipl.-Ing. agr. Ulrich Ketelhodt, Fachreferent für Landwirtschaft und Ernährung, KDA Nordelbien (rechts)
Pastorin Antje Heider-Rottwilm begrüßt die Gäste Markus Böcker, Inhaber des Edeka-Marktes in der HafenCity (links) und Dipl.-Ing. agr. Ulrich Ketelhodt, Fachreferent für Landwirtschaft und Ernährung, KDA Nordelbien (rechts)
Engagierte Diskussion über die Verschwendung von Nahrungsmitteln

Leuchtend rote Tomaten, saftige grüne Gurken und knackig gelbe Paprika prasseln in einen großen Müllcontainer. Die Gemüseflut wird von einem Beamer überdimensional an die Wand geworfen und will gar kein Ende nehmen. Erste entsetze Blicke im Publikum, ein Mann notiert sich kopfschüttelnd die Zahlen: 45 Kilo Lebensmittel vernichtet ein durchschnittlicher Supermarkt pro Tag. In einer mit-teleuropäischen Durchschnittsfamilie werden jährlich 100 Kilo Essbares weggeworfen. Der Film des Evangelischen Entwicklungsdienstes zeigt den globalen Zusammenhang zwischen der Nahrungsmit-telverschwendung der Reichen und den Hungerunruhen der Armen.
Vergangene Woche veröffentliche nun Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) eine Studie zum Um-gang der Deutschen mit ihren Lebensmitteln – mit vergleichbaren Ergebnissen. „Natürlich war uns bei der Planung der Veranstaltung nicht klar, dass uns Frau Aigner extra eine Studie liefern würde“, begrüßte Pastorin Antje Heider-Rottwilm von der Brücke – Ökumenisches Forum HafenCity am Mon-tagabend ihre Gäste auf dem Podium und im Publikum im Weltcafé Kleine ElbFaire. „Die weltweite Wirtschaftskrise oder die soziale Spaltung in Deutschland sind von unserem Umgang mit den Nah-rungsmitteln nicht zu trennen.“

Aufnahme während des einleitenden Films „Essen im Eimer“ vom Evangelischen Entwicklungsdienst: Arbeiter werfen abgelaufene Lebensmittel in Müllcontainer
Aufnahme während des einleitenden Films „Essen im Eimer“ vom Evangelischen Entwicklungsdienst: Arbeiter werfen abgelaufene Lebensmittel in Müllcontainer
Nach dem einleitenden Film herrschte zunächst beklommenes Schweigen. Ratlose Blicke wurden ausgetauscht. Später am Abend zeigte sich, dass die meisten im Publikum über die Lebensmittelver-schwendung spätestens seit der neuen Studie des Ernährungsministeriums gut informiert sind. Die drastischen Bilder haben dennoch einen bleibenden Eindruck hinterlassen: „Solche Szenen wie das Verbrennen von altem Brot tun richtig weh und sie machen mich nachdenklicher als jeder politische Apell“, fasst einer seine Betroffenheit zusammen.

 

ufnahme während des einleitenden Films „Essen im Eimer“ vom Evangelischen Entwicklungsdienst: Unverkäufliches Gemüse wird in den Müll gekippt
ufnahme während des einleitenden Films „Essen im Eimer“ vom Evangelischen Entwicklungsdienst: Unverkäufliches Gemüse wird in den Müll gekippt
Doch es dauerte nicht lange, bis Heider-Rottwilm dem Publikum erste Fragen entlocken kann: „Diese Nahrungsmittelspekulationen: Was hat das an der Börse zu suchen?“, wollte ein Mann in kariertem Hemd von Ernährungsfachreferent Ulrich Ketelhodt der Nordelbischen Kirche hören. „Ich möchte wissen, was man gegen die Verschwendung tun kann“, sagte eine Frau mit kurzen braunen Haaren. „Die Tafeln in Hamburg können ja nur einen Teil der übrig gebliebenen Ware in den Supermärkten einsammeln.“ Eine anderer Mann wollte über den individuellen Umgang mit Lebensmitteln sprechen und wandte sich an den Inhaber des Edeka-Marktes in der HafenCity Markus Böcker: „Was soll ich mit 100 Joghurtsorten? Das Angebot erschlägt mich.“

Im Laufe der engagierten Diskussion wurde schnell das Interessengeflecht von Verbrauchern, Einzel-handel und Industrie deutlich. Ein einzelner Supermarkt kann den Lebensmittelabfall kaum reduzie-ren: „Wir versuchen uns auf die Bedürfnisse der Konsumenten einzustellen und die erwarten bis kurz vor Ladenschluss volle Regale.“ Christian Barg konnte als zweiter Inhaber des HafenCity-Edekas die verärgerten Kunden sogar verstehen: „Das eigentliche Problem sind doch die langen Öffnungszei-ten.“ Während die Einzelhändler besonders in Deutschland fürchten müssen,  unzufriedene Kunden an die billige Discounter-Konkurrenz zu verlieren, versucht die Lebensmittelindustrie mit einer gro-ßen Produktpalette überregional erfolgreich zu sein. Da scheint es, als hätten die Verbraucher den größten Einfluss: „Wir müssen uns wieder bewusst machen, wie viel Macht wir Kunden durch unsere Kaufentscheidungen haben“, forderte eine engagierte Frau aus dem Publikum.
Ulrich Ketelhodt prägte schließlich den Satz des Abends: „Unser Lebensstil kommt in die Krise.“ Das Publikum nickte zustimmend. Sofort wurden angeregt die eigenen Erfahrungen ausgetauscht und die Probleme benannt: Berufstätige haben oft keine Zeit zum Kochen, die Essgewohnheiten der Familien verändern sich, Kinder verlieren durch Fertiggerichte die Beziehung zu den Nahrungsmitteln. Tat-sächlich unterscheidet der Umgang mit den Lebensmitteln die Generationen. Die neue Studie des Verbraucherministeriums zeigt, je jünger die Verbraucher sind, desto mehr Essen landet im Müllei-mer. Publikum und Podium sind sich einig: Die deutsche Esskultur hat einen Bewusstseinswandel nötig.

Der Abend in der Kleinen ElbFaire war zumindest ein Anfang. Eine knappe halbe Stunde länger als geplant diskutierte das engagierte Publikum mit den beiden Podiumsgästen  und stand im Anschluss noch bei einem bio-fairen Imbiss in kleinen Gruppen zusammen. Die eindringlichen Schlussworte von Antje Heider-Rottwilm hallten in den Gesprächen nach: „Im Vater Unser beten wir: ‚Unser täglich Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld.‘ Diese beiden Zeilen gehören für mich eng zusam-men. Der Hunger in der Welt ist auch unsere Schuld, weil wir nicht konsequent genug handeln.“
Sophie Hufnagel